Ohne Schweiß und Studio

Von Redaktion · · 2008/04

„Nollywood“ wird Nigerias Filmindustrie genannt: Gedreht wird in ein paar Tagen, ohne Studios, mit Digitalkameras und LaienschauspielerInnen. Der Strom kommt aus dem Generator. Nichtsdestrotz kann sich das Ergebnis – sogar auf Festivals – sehen lassen. Peter Böhm aus Lagos.

Wenn man sehen will, wie ein typischer Nollywood-Film gemacht wird, geht man am besten an einem beliebigen Morgen ins Winnies in Surulere. Dort trifft sich täglich mindestens ein Team und fährt zum Dreh. Das Winnies sieht aus wie ein ganz normales Hotel, ein bisschen mehr heruntergekommen vielleicht als andere, mit einer verrauchten Bar und einem stinkenden Abwassergraben vor dem Haus – wie in Lagos üblich. Die meisten Produktionsfirmen haben keine Büros, und so verabreden sich hier die Filmteams.
Warum gerade hier? „Na, das hat sich einfach so eingebürgert“, meint Kingsley Igwemba (36) von der Produktionsfirma Divine Touch. Zusammen mit seinem Bruder Emeka und dessen Firma First Prince Creation produziert er gerade ein „Familiendrama“ – „Titel hat es noch keinen. Den legen wir immer erst am Ende fest“.
Mit zwei Jeeps und einem verbeulten Mercedes-Bus, an dem jemand mit Klebeband ein Film-Plakat befestigt hat, sind sie heute zum Winnies gekommen. „Wir sind am vierzehnten Drehtag“, erklärt der ältere Bruder Emeka. „Noch fünf Tage, wenn alles gut läuft, und wir sind fertig.“
Alltag in Surulere, das sich als das Filmviertel von Nigerias Wirtschaftsmetropole Lagos etabliert hat. Fünf Minuten vom Winnies die Hauptstraße hinunter, direkt neben dem großen Fußballstadion, liegt das Ojez, eine weitere Nollywood-Attraktion. Hier kehren die Teams, die Filmstars und -sternchen nach den Drehs gerne ein. Aber warum sich Nollywood gerade Surulere ausgesucht hat, kann niemand so genau sagen. „Vielleicht weil es so zentral liegt“, meint Jahman Anikulapo, langjähriger Kulturchef der Tageszeitung „The Guardian“.

Das Filmteam der Igwemba-Brüder – zwei Ausstatterinnen, ein Beleuchter, ein Kameramann, ein Toningenieur, ein Fahrer, drei Helfer – steigt in den Mercedes-Bus und fährt nach Festac, wo die Brüder ein Reihenhaus für den Dreh gemietet haben. „So läuft das in Nollywood“, wird der Regisseur Ikechunkun Onyeka (39) später erklären. „Bei uns gibt es keine Studios. Der Location-Manager schaut sich in der Stadt nach passenden Häusern um. Manchmal bezahlen wir etwas. Manchmal dürfen wir dort umsonst drehen, weil die Leute gerne die Filmstars bei sich zuhause haben.“
Der Regisseur ist die Ruhe selbst. Obwohl der Drehbeginn für 10 Uhr angesetzt ist, sind die SchauspielerInnen um halb 11 noch nicht da, ist noch nichts aufgebaut, steht das Team noch im Kreis herum und isst Bohnen und Reis. „Das stimmt schon, Nollywood ist bekannt dafür, Filme in ein paar Tagen zu drehen“, kommentiert er. „Aber deshalb müssen wir ja nicht gleich hektisch werden.“ Onyeka weiß, wovon er redet. Wie alle im Team hat er zwar keinerlei formale Ausbildung, aber seit zwei Jahren macht er zwei Filme im Monat und gehört damit zu den alten Hasen. Zum Filmemachen ist er eher durch Zufall gekommen. Ursprünglich hat er für einen Makler gearbeitet und wurde als Location-Manager an ein Film-Team ausgeliehen. Dann hat er produziert und war Regieassistent. Und seit drei Jahren führt er selbst Regie.

Mit bisher 14 Drehtagen und einem Budget von 6,5 Millionen Naira, ungefähr 38.000 Euro, gehört Onyekas aktueller Film schon zu den größeren Nollywood-Produktionen. „Die Zeiten sind vorbei, wo wir nur Filme gedreht haben, um Geld zu verdienen“, sagt er. „Wie viele Filmemacher in Nigeria schicken wir unsere Filme inzwischen auf Filmfestivals, und uns ist völlig klar, dass wir mit unseren Filmen für die afrikanische Kultur werben.“
Mit fast einer Stunde Verspätung trudeln schließlich die beiden DarstellerInnen ein, Ini Edok und Uche Odoputa. Das Drehbuch, 40 von der Ehefrau des Produzenten eng mit der Schreibmaschine getippte Seiten, sieht zuerst eine Szene vor, in der Edok ihrem Film-Verlobten gesteht, dass sie nicht ihn liebt, sondern den Mann, der ihren Vater getötet und die Familie in den Bankrott getrieben hat. Was will man machen!
Die Ausstatterinnen richten sich mit einem Haufen Kleider auf dem Bett im Schlafzimmer ein, Edok im Wohnzimmer, um ihre Perücke zu kämmen und sich zu schminken. Ein Helfer stellt neben dem Fernseher ein paar Bilderrahmen mit Fotos der SchauspielerInnen auf. Zwei Lampen kommen in die eine Ecke, eine Digital-Kamera in die andere. In Nollywood wird nur in ganz wenigen Ausnahmen auf Zelluloid-Film aufgenommen. Die Szene wird zweimal trocken durchgeprobt, dann wird gedreht. Einmal von nah, einmal von fern. Nach dem Filmen werden die zwei Perspektiven zusammen geschnitten. Und wie man in vielen Nollywood-Filmen beobachten kann, bleiben oft auch die Szenen drinnen, in denen sich die SchauspielerInnen verhaspelt haben. Nur Schweiß will der Regisseur nicht tolerieren. Wenn ein bisschen davon auf Edoks Stirn glänzt, ruft er sofort: „Cut. Ini, du schwitzt schon wieder.“ Dann eilt einer der Helfer herbei, tupft ihr die Stirn und verschwindet wieder.
Zwar meint es die staatliche Stromgesellschaft heute gut mit dem Filmteam – es gibt den ganzen Tag Strom. Das ist ungewöhnlich in Lagos. Aber da bei Nollywood-Filmen der Ton nicht nachbearbeitet wird, kann die Klimaanlage nicht eingeschaltet werden. Und bei manchen Filmen kann man, wenn man genau hinhört, im Hintergrund leise einen Generator brummen hören.
„Selbstverständlich leidet die Qualität eines Filmes darunter, wenn man zehn Drehbuch-Seiten an einem Tag abarbeitet und so wenig Ausrüstung hat wie wir“, ist sich Onyeka im Klaren. „Aber man kann das natürlich auch als Vorteil sehen. Wir sind durch eine harte Schule gegangen, und wenn wir irgendwann unter professionellen Bedingungen arbeiten können, brauchen wir uns vor niemandem zu verstecken. Auch nicht vor Hollywood.“

Hilfe ist schon auf dem Weg. Wurde Nollywood bisher von der nigerianischen Regierung und dem Finanzsektor ignoriert und ausschließlich von einigen wenigen privaten UnternehmerInnen angetrieben, beginnen sich allmählich die heimischen Banken für die Filmindustrie zu interessieren. „Für unseren ersten Film haben wir vor fünf Jahren das Geld von Freunden und Verwandten zusammen geborgt“, berichtet der Produzent Emeka Igwemba. Er selbst hat seine Karriere als Fotograf für Filmplakate begonnen. „Mit Gottes Hilfe war unser erster Film gleich erfolgreich, aber er hätte auch schief gehen können.“
Letztes Jahr hat nun erstmals eine der größten nigerianischen Banken, Ecobank Plc., vier Filme mit einem Kredit finanziert. „Das ist ein Riesenschritt für Nollywood“, freut sich Fred Amata, der einen dieser Filme, „Letters from a Stranger“ (Briefe eines Fremden), gemacht hat. „Lange hatte die Filmindustrie in Nigeria ein Wildwest-Image. Deshalb haben wir vier Regisseure uns zusammengesetzt und uns gefragt: Wie können wir das ändern?“ Amata kommt aus einer Familie von Filmemachern. Sowohl sein Vater als auch sein Neffe sind bekannte Regisseure.
Zusammen mit drei anderen Regisseuren gründete er im Jahr 2006 das „Projekt Nollywood“ und versuchte Sponsoren im nigerianischen Finanzsektor zu finden. Auch die großen Hollywood-Studios verlassen sich für ihre Blockbuster, deren Produktionskosten leicht 100 Millionen US-Dollar überschreiten können, auf Kredite von Investmentbanken und Private Equity-Fonds. „Projekt Nollywood“ vergleicht Amata allerdings eher mit Dreamworks, dem Animationsstudio, das Regisseur Steven Spielberg und der Musik-Produzent David Geffen in den 1990ern gegründet haben, um den großen Studios Konkurrenz zu machen. Der Vergleich bezieht sich freilich auf die frühen Jahre, bevor Dreamworks 2006 von Paramount aufgekauft wurde.

Gleichzeitig bemüht sich „Projekt Nollywood“, ein funktionierendes Vertriebssystem für die Filme in Nigeria aufzubauen und sie nach westlichem Vorbild zu vermarkten: sie zuerst in Kinos zu zeigen und dann erst auf DVD zu veröffentlichen. Das ist jedoch einfacher gesagt als getan, denn in Nigeria gibt es Kinos im herkömmlichen Sinne kaum. „Die typischen Nollywood-Filme werden so veröffentlicht: Es werden ein paar Plakate geklebt“, beschreibt Regisseur Onyeka. „Dann werden zwei Wochen lang die DVDs verkauft, und das meistens nur in vier Bundesländern. Nigeria hat aber 36. Deshalb reiben sich die Fälscher natürlich die Hände. Die Leute in den anderen 32 Bundesländern haben gehört, es gibt den Film, aber sie kommen nicht an ihn ran. Also kaufen sie die gefälschte DVD.“
Der Vertrieb ist die Schwachstelle der nigerianischen Filmindustrie, bestätigt Produzent Emeka Igwemba. Vom aktuellen Film plant er, 30.000 DVDs brennen zu lassen: 10.000 für Lagos., den Rest für das Niger-Delta und die Ibo-Region im Südosten des Landes. Oft verkaufe seine Produktionsfirma die DVDs an HändlerInnen, erzählt er, die Lebensmittel und alle möglichen anderen Waren in ihre Heimatregionen transportieren. Dass im Westen und Norden des Landes so gut wie nur gefälschte Versionen ihrer DVDs kursieren, müsse die Produktionsfirma in Kauf nehmen.

Eine Original-DVD kostet in Nigeria 400 Naira, umgerechnet 2,30 Euro, eine gefälschte ungefähr die Hälfte. Sie für einen Tag zu leihen, kostet weniger als 30 Cent. Die meisten ZuschauerInnen sehen die Filme in improvisierten Kinos. Die bestehen zumeist nur aus einem DVD-Spieler, einem Bildschirm und ein paar Stühlen unter einem Dach oder im Freien. „Von ihrem Gewinn führen die an uns natürlich nichts ab“, weiß Igwemba. Trotz all der Probleme bei der Produktion und dem Vertrieb sind sich alle einig, dass Nollywood eine große Zukunft vor sich hat. Wen auch immer man in der nigerianischen Filmbranche fragt, alle sind voller Enthusiasmus.
„Seit wir dabei sind“, sagt Produzent Igwemba, „hat Nollywood einen Riesenboom erlebt. Und das haben wir ohne jegliche Hilfe, nur mit dem Schweiß unserer eigenen Arbeit erreicht. In ein paar Jahren werden wir Filme mit großen Budgets machen.“ Regisseur Onyeka glaubt: „In fünf Jahren muss Hollywood sich vorsehen. Die Zeit ist auf unserer Seite.“ Und sein Kollege Fred Amata: „Im Augenblick werden unter dem Etikett Nollywood noch zu viele schlechte Filme verkauft. Aber sobald sich die Spreu vom Weizen getrennt hat, sehe ich keine Grenzen für das Wachstum der nigerianischen Filmindustrie.“

Peter Böhm ist freiberuflicher Journalist und Buchautor und lebt nach längeren Aufenthalten in Ostafrika und Zentralasien wieder in Deutschland.

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